Die wahre Kunst des Tanzes liegt darin, zwei Ebenen zu vereinen: die geschulte Form, die Raum schafft – und die innere Bewegung, die ihn mit Leben füllt.
Leiblichkeit
Viele Menschen vertreten heute die Auffassung, dass Körper und Seele (Psyche) zwei getrennte Einheiten seien. Zwar handelt es sich tatsächlich um unterschiedliche Aspekte des Menschseins, dennoch sind beide eng miteinander verbunden und voneinander abhängig. Erst ihr Zusammenspiel ermöglicht es uns, als Menschen zu existieren und uns selbst zu verstehen.
Das umfassende Gefüge, das Körper und Seele verbindet und uns eine ganzheitliche Erfahrung unseres Menschseins ermöglicht, bezeichne ich als Leib. Durch unseren Leib erleben wir die Welt und uns selbst – und da wir es nicht anders erfahren können, können wir auch sagen, dass wir Leib sind.
Um uns selbst tiefer zu erfahren und letztlich bewusst gestalten zu können, ist es notwendig, uns als das wahrzunehmen, was wir tatsächlich sind – nicht nur als Fragment davon. Vielleicht können wir nicht alle Ebenen gleichzeitig vollständig erleben, doch ebenso wenig sollten wir uns auf nur einen Teil reduzieren. Wer sich ausschließlich am körperlichen Erleben orientiert und dabei Emotionen, Vorstellungen, Gedanken und Wünsche ausblendet, nimmt sich selbst nur unvollständig wahr. Viele Menschen müssen lernen, ihren Leib überhaupt wahrzunehmen. Leiberfahrung kann in sehr unterschiedlichen Formen auftreten, und es existieren viele Wege, diese zu ermöglichen.
Menschsein bedeutet leiblich sein.
Um leiblicher – und damit auch menschlicher – zu werden, müssen wir üben, uns in unserer ganzen Vielfalt zu begreifen und die verschiedenen Ebenen unseres Seins zu vereinigen.
Tanz als Weg zur Leiblichkeit
Tanz ist ein besonders geeignetes Mittel, um Leiblichkeit erfahrbar zu machen.
Wir sind zwar immer leiblich, aber nicht jeder Moment fühlt sich „stimmig“ an. Wir fühlen uns manchmal mehr oder mehr „stimmig“ oder leiblich. Wenn die verschiedenen Ebenen unseres Seins optimal zusammenwirken, erleben wir einen umfassenden Ausdruck der Situation. Im Tanz lässt sich diese Stimmigkeit unmittelbar beobachten – etwa in der Übereinstimmung von Körperhaltung, emotionalem Ausdruck und passenden Bewegungen. Musik, Raum, Bühnenbild, aber auch andere Mit-Tänzer, können diese Einheitserfahrung zusätzlich verstärken.
Werden beispielsweise nur technische Bewegungsabfolgen ausgeführt, ohne dass ein entsprechendes Gefühl mitschwingt, bleibt der Eindruck meist flach und wenig berührend.
Im Tanz erkennen wir Hinweise auf Leiblichkeit, indem wir Gefühle, Bewegungsqualität und Bewegungswahl als Einheit betrachten.
Form und Kraft – sich ergänzende Pole
Um dies zu verdeutlichen, können die Begriffe Form und Kraft hilfreich sein.
Form und Kraft wirken in allem, was wir tun – im Tanz ebenso wie im Alltag. Form, etwa ein körperlicher Ausdruck oder eine Choreografie, ist notwendig, damit eine Bewegung wahrgenommen und verstanden werden kann. Doch Form ohne Kraft bleibt leer: Eine rein technische Schrittkombination ohne Energie, Emotion oder Intensität wirkt langweilig und aussagelos und beeinflusst sowohl den Tänzer selbst als auch die Stimmung im Raum.
Genauso ist Kraft ohne Form blind: Reine Energie, eine Emotion ohne passende Körperhaltung oder Bewegung bleibt ein ungeordneter, unreflektierter Ausdruck.
Erst wenn Kraft und Form in Harmonie zueinanderfinden, entsteht ein stimmiger Gesamteindruck – das, was ich in zugespitzter Weise Leiberfahrung nenne. Zugespitzt deshalb, weil Leiblichkeit nicht erst in diesem Moment beginnt, aber hier bewusst erfahrbar wird.
Ein Tanz wird lebendig, wenn die Form mit authentischer Energie gefüllt wird, d. h., wenn Technik und Gefühl, Präzision und Hingabe sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig beflügeln. Der Körper kennt die Form, der Geist lässt los – und plötzlich geschieht etwas, das größer ist als wir selbst: Bewegung wird Ausdruck, Schritt wird Sprache, Tanz wird Seele.
Die Kunst besteht darin, ein angemessenes Maß zwischen diesen beiden Polen zu finden, sodass ein stimmiger Ausdruck entsteht. In einem solchen Moment erleben wir uns als Einheit, ohne innere Widersprüche, mit synchron agierenden Ebenen unseres Seins.
Eine wesentliche Kunst der Leiblichkeit besteht darin, Kraft und Form in eine harmonische Einheit zu führen.
Tanz als Spiegel des Lebens
Form entsteht durch Bewegung – durch die Art, wie wir unseren Körper einsetzen, wie wir Haltung, Richtung, Tempo und Dynamik gestalten. Doch Form ist mehr als eine äußere Struktur: Sie ist sichtbarer Ausdruck unseres Inneren. Jede Geste ist eng damit verbunden, wer wir sind, wie wir uns fühlen und wie wir mit unserer Umgebung in Resonanz kommen.
Unsere Körperhaltung sendet ständig Signale: Offenheit oder Zurückhaltung, Stärke oder Unsicherheit, Nähe oder Distanz. Sie beeinflusst, wie wir uns selbst erleben – und wie andere uns wahrnehmen. Im Tanz wird dieses Wechselspiel unmittelbar spürbar: Jede Bewegung formt nicht nur den Raum, sondern auch die Beziehung zu den Menschen darin.
Beim Tanzen können wir erforschen, wie sich innere Haltung und äußere Form gegenseitig beeinflussen. Wie wirkt es, wenn ich mich öffne oder zurückziehe, mich ruhig oder kraftvoll bewege? Wie verändert sich mein Kontakt zu anderen, wenn ich meine Haltung bewusst gestalte?
Tanz wird so zu einem Experimentierfeld für Bewusstsein und Ausdruck. Wir lernen, Bewegung als Sprache zu verstehen – als Möglichkeit, Gefühle sichtbar und Beziehungen erfahrbar zu machen.
Wenn wir uns unseres Ausdrucks bewusst werden, gewinnen wir Klarheit und Präsenz. Wir wirken authentischer, zugänglicher, lebendiger. Das, was wir ausstrahlen, kehrt in Resonanz zu uns zurück.
In einem offenen, aufrechten Körper spiegelt sich oft eine offene, aufrechte Haltung zum Leben – und diese Haltung lädt auch andere ein, sich zu öffnen. So wird Tanz zu mehr als einer ästhetischen oder technischen Übung. Er wird zu einer Art, mit uns selbst und unserer Umgebung in Beziehung zu treten – mit Struktur und Freiheit, mit Gefühl und Ausdruck, mit Körper und Seele – mit dem ganzen Leib.
